Artikelreihe von Karin Freist-Wissing über die beiden Bach-Passionen – „O GROßE LIEB“ – J.S. Bachs Leidenschaften – Johannespassion – Matthäuspassion, was ist das?
Artikel 1 1: „Matthäuspassion: Eine Musik von unfassbarer Größe“
Die autographe Partitur der Matthäuspassion ist das wertvollste Werk aus dem Nachlass seines Sohnes Carl Philip Emmanuel Bach. Johann Sebastian Bach hat diese Partitur mit äußerster Sorgfalt erstellt, wenn er etwas korrigieren musste, hat er neue Noten-Blätter akkurat aufgeklebt und beschriftet. Die Bibelworte sind mit roter Tinte geschrieben, alle anderen Texte mit der üblichen braunen Sepia Tinte.
Die Ur-Aufführung der Matthäuspassion fand 1727 in der Thomaskirche in Leipzig statt. Es gibt aber keine Information darüber, in welcher Besetzung und an welchem Ort in dieser Kirche.
Eine Aufführung dieser Passion dauert mehr als 3 Stunden und wechselt ständig zwischen zwei Zeitebenen: der biblischen Erzählung von vor 2000 Jahren und einer zeitlosen, zeitgenössischen Interpretation dieser Ereignisse.
Hören wir die Johannespassion, so haben wir kaum Zeit über das nachzudenken, was uns an schweren Themen um die Ohren gehauen wird: Was bedeutet es König zu sein? Wo ist das Reich Gottes? Wer war eigentlich dieser Mensch Jesus oder ist er doch Gottes Sohn? Was ist denn Wahrheit, wo ist die Antwort darauf und was ist Falschheit? Und wer stellt diese dar? Die Dichte der großen Themen, und die Schnelligkeit, in der sie musikalisch umgesetzt werden und auf einanderfolgen, macht die Johannespassion zu einer hochdramatischen atemlosen Oper.
Ganz anders ist die Matthäuspassion: in den Arien und Chorälen haben die Hörerinnen und Hörer viel Zeit, das Geschehen zu reflektieren, zu analysieren, und zu einem eigenen Standpunkt zu kommen.
Die unterschiedlichen Figuren, die in der Matthäuspassion auftauchen, bieten sehr viel Möglichkeit der Identifikation an. Da ist von Petrus die Rede, der seinen Freund und Meister verleugnet. Als er den Hahn krähen hört, erinnert er sich daran, dass Jesus genau diese Situation vorausgesagt hatte und fängt bitterlichst an zu weinen. Judas, auch ein enger Freund Jesu, verrät ihn wegen dreißig Silberlingen? Wohl nicht… Judas war politisch engagiert und wollte, dass sich Jesus an die Spitze der zelotischen Bewegung gegen die römische Besatzung setzt. Als er scheitert und die Auswirkungen begreift, nimmt er sich das Leben. Pilatus, ein Mensch, der viel zu schwach ist, seine Überzeugung zu kommunizieren oder gar zu leben. In den Ariosi und den Arien zeichnet Bach ausführlich und intensiv ein emotionales Bild dieser gescheiterten Menschen. Es geht um Verleugnung, Verrat und Vergebung, um Liebe und Opfer, um Mitleid, Hass, Selbsthass, es geht um Gnade und Erbarmen. Das sind alles die großen Lebensthemen, die alle Menschen bewegen, damit sind sie auch heute für uns hochaktuell.
Das Grundprinzip dieser Komposition ist der Dialog. Das ist schon in der Besetzung zu sehen und zu hören, es gibt zwei Chöre, zwei Orchester und zwei Solisten-Ensembles, die miteinander kommunizieren. Auf diese Weise schafft Bach faszinierend genial eine intellektuelle und emotionale Lebendigkeit, die alles im Fluss hält, trotz der unglaublichen Länge der einzelnen Stücke und des gesamten Werkes.
Ich erzähle euch im nächsten Artikel noch mehr dazu.
Karin Freist-Wissing
Weitere Informationen zur „Matthäus-Passion“ am 15. April 2022 in der Kreuzkirche.